Von Lissabon nach Santiago de Compostela
Tagebucheintrag 01. Juni 2007
In der Eile habe ich gestern falsch geguckt. Nach Mealhada sind es "bloß" 22 Km. Die 40 habe ich aber trotzdem gemacht, und noch 6 dazu. Ging bis Águeda. Im Morgengrauen verließ ich den Residencial. Auf meinem Weg aus der Innenstadt sah ich in einem Schaufenster die berühmten Togas der Universitätstudenten. Die Preise liegen zwischen 200 - 300 Euro. Der Hut kostet 35 Euro. Es dauerte nicht lange, die Stadt zu verlassen. Irgendwo außerhalb der Stadt hörte ich Kirchenglocken. Aber was war das? Das darauf folgende Lied war nicht wie gewohnt, das Ave Maria aus Fátima. Es ertönte die Europahymne.
In einem der Dörfer, wollte ein Junge mir unbedingt die Hände schütteln; dabei hatte er selber ganz verkrüppelte Hände. Ich schüttelte ihm die Hände und dachte mit Dankbarkeit daran, welch ein Glück ich hatte, kein Opfer von genetischen Defekten zu sein. Mit meinen Händen, kann ich greifen, berühren und spüren was ich möchte; mit meinen Augen kann ich die Wunder der Natur erleben und sehen wohin ich gehe; mit meiner Nase kann ich die wunderbaren Gerüche genießen, die die Welt zu bieten hat; mit meinen Ohren kann ich wundervolle Musik hören, mich über Vogelgezwitscher und Kirchenglocken erfreuen; und mit meinen Beinen kann ich gehen wohin ich möchte, schnell, langsam, gehend, laufend oder tanzend.
In der Nähe von Coimbra sind mir immer öfter Tüten mit Brötchen aufgefallen, die am frühen Morgen an den Haustüren oder Gartentoren hingen. Und noch etwas ist mir aufgefallen: Die Frauen binden ihre Kopftücher anders als im Süden. Die Façon erinnert ein wenig an die Kopftücher der Seeräuber.
An diesem Morgen kaufe ich mir eine Tüte Kirschen, die an der Strasse verkauft werden. Im Wald übe ich mich im Kirschsteinspucken. Klingt ein bisschen wie ein vergeblicher Versuch, Trompete zu spielen. Ich muss seitlich spucken, damit sie mir beim Gehen nicht auf den Füßen landen. Es wurde aber immer besser. "Übung macht den Meister", und mit einem Kilo kann man viel üben.
Abgesehen von dem Waldstück muss ich viele Strassen entlanglaufen. Langsame Fahrer, die mich früher ärgerten, sind jetzt meine Lieblingsfahrer geworden. Gegen Mittagszeit ist es unerträglich heiß geworden. Ich möchte unbedingt Anadia erreichen, ehe ich meine Mittagspause mache. Je mehr unangenehme Strecken ich hinter mir habe, desto besser. Es scheint aber eine Ewigkeit zu dauern. Kann kaum mehr. Laufe fast wie in Trance. Ein unangenehmer Staub klebt ständig an meinen Füssen fest. Als ich endlich angekommen bin, ist noch kein Ruheplatz in Aussicht. Vor mir läuft eine Nonne. Bevor sie in eines der Häuser hineingeht, dreht sie sich um und fragt mich, ob ich nicht mit reinkommen möchte. Wie von Gott gesandt, denke ich. Es sind die magischen Momente der Wanderung.
Im kühlen, bescheidenen Haus gibt sie mir eine große Wanne, in der ich meine Füße abkühlen und waschen kann. Anschließend bewirtet sie mich mit Reis und Spiegeleiern. Ich möchte so gerne etwas geben, habe aber nichts anderes als die Kirschen. Anstatt sie anzunehmen, gibt sie mir noch mehr Obst und Milchtüten für die weitere Wanderung und begleitet mich ein Stück aus der Stadt.
Am späten Nachmittag sehe ich plötzlich in der Ferne eine entgegenkommende Gestalt mit Stock. Ist das etwa ein Pilger? Die zwei Belgier habe ich seit Tagen nicht mehr gesehen und, obwohl sehr, sehr viele Portugiesen nach Fátima laufen, war meine einzige Begegnung mit Fátimapilgern die Gruppe in Minde. Die entgegenkommende Person und ich nähern uns. Es ist ein Pilger! Ich spüre eine große Freude, meinesgleichen zu treffen. Er ist Franzose. Aus Frankreich ist er nach Santiago gelaufen und läuft nun weiter nach Fátima. Zum Abschied grüßen wir uns mit Ultreya.
Der Tag hat noch eine freudige Überraschung für mich bereit. In Águeda folge ich der sehr gastfreundlichen Einladung und rufe Barbara Seuffert und Hagen Seuffert an. Eine halbe Stunde später werde ich abgeholt und sehr herzlich in ihrem wundervollen Haus empfangen. Auf der kleinen Straße in dem Dorf Caragossa fällt das Haus nicht auf; öffnet man aber die Tür, offenbart sich einem ein kleines Paradies. Obwohl es schon spät ist, werde ich mit köstlichen Sardinen, leckerem Caldo Verde (bis dahin hatte ich nicht gewusst, dass man im Norden die Suppe nach der Hauptspeise serviert), Erdbeeren mit Sahne und einer einmaligen, selbst gemachten Schokoladen-Mousse verwöhnt. Der Tag endet mit einem rührenden Erlebnis in der Dorfkirche. Dort übten einige Dorfbewohner, u.a. auch das Ehepaar Seuffert und ein Organist, die Lieder für die kommende Sonntagsmesse. In diesem Chor war so viel Herz und Seele!
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